Reiner Niehoff: Fassaden

Die außergewöhnliche Intensität, welche die Bilder Ute Pleugers auszeichnet, entspringt der Irritation und dem Paradox. Ihre Fassadenbilder wirken massiv und zugleich transparent, sie scheinen verlassen und machen doch nicht einsam, sie begegnen dem Betrachter als statische Objekte, Gegenstände, und erscheinen doch als Abläufe, als Bewegung einer großen Wiederholung. Ohne Standort sieht man sich von einer Welt erfaßt, die gerade dadurch fasziniert, daß in ihr alles Menschliche ausgespart ist. Die Bilder Ute Pleugers verzichten auf ein anthropomorphes Maß, und sie gewinnen den Glanz einer Welt, die nicht mehr den Stempel des Subjekts trägt. Die Bilder eröffnen eine distanzlose und intime Erfahrung, eine éxperience intérieure.

Den Ursprung ihrer Formensprache und das andere Maß ihrer Bilder hat Ute Pleuger in der Musik Bachs und Buxtehudes gefunden. Parallel zu ihrer Ausbildung an der Hochschule der Künste in Berlin betrieb sie ein freies Musikstudium im Fach Orgel. Es ist also kein Zufall, wenn die Pariser Fassade von 1984 ursprünglich den Titel Fuge trug, wenn ein anderes Bild Passacaglia benannt ist, und wenn sich in ihrem Werk Zwölf Zeichenfolgen zu ‘La Nativité du Seigneur’ für Orgel von Olivier Messiaen finden. Tatsächlich besitzen die Bilder Ute Pleugers eine mathematische Sinnlichkeit, die von den Großformen Bachs und Buxtehudes angeregt ist; und vielleicht darf man die Nähe zur polyphonen Musik auch im Hang zur expansiven Form und in den wiederkehrend linear-parallelen Bildaufbauten erkennen: Fensterreihen lassen an fugale Mehrstimmigkeit denken, Fensterläden stiften imitatorische Bezüge. Die Fassaden gleichen imaginären Notenschriften.

Die Fassade ist das beherrschende Sujet der Malerei Ute Pleugers geworden. Die Geschichte der nun bald zehnjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema ist zugleich die Geschichte seiner reduktiven Verwandlung.

Der Blick aus einer Berliner Hinterhauswohnung in einen kleinen Innenhof und auf die gegenüberliegende Fassade war der äußere Anlaß. 1984 und 1985 entstanden dann in Paris über einhundert monochrome Gouachen auf Packpapier als immer neue Varianten dieses einen Blickes. Die kleinformatigen Arbeiten leben vom Widerspiel zwischen dem Raum des Schauenden, präsent durch das deutlich akzentuierte Fensterkreuz, und der erblickten Fassade, die im wechselnden Licht des Tages changiert und in eine intensive, streng geordnete Innerlichkeit verwandelt wird. Ein konstruktiver und gleichsam inständiger Blick erzeugt in den Gouachen eine reflektierte und irisierende Spannung von Innen und Außen.

Anders die Ölbilder. Die großen Fassaden bleiben nicht bei der Gegenüberstellung von Konstruktion und Innerlichkeit, von Fensterkreuz und Hauswand stehen, sondern schreiben der Fassade selbst die Konstruktion ein. Der Gegenstand wird stärker von rationaler, konstruktiver Durchdringung ergriffen, nicht ihr entgegengestellt. Das Objekt erhält den Vorrang. Das Fensterkreuz und die ganze Welt des Schauenden verblaßt, zieht sich in eine Schattenschrift zusammen, die auf der gegenüberliegenden Fassade erscheint.

Spricht in den Gouachen der Schauende von sich, indem er weniger eine Fassade, als den Blick auf eine Fassade vorstellt, so arbeiten die Ölbilder zunächst betont mit dem, was die Fassaden selber zeigen. Fenster, Fensterläden, Vorhänge, durch nachmittagliches Sonnenlicht ausgeleuchtet, verweisen auf die Menschen, die hinter den Fassaden leben: Zeichen, von den Bewohnern wie zufällig in die Fassade eingeschrieben.

Ein zweiter Blick erkennnt in den frühen Fassaden zugleich den konstruktiv-ganzheitlichen Zug, mit dem das Sujet erfaßt wird. Vertikal schafft die reihenbetonte und zeilenähnliche Anordnung der Fenster eine klar lineare, schriftähnliche Bewegung; horizontal markieren unterschiedliche Gebäudeteile die blockhaft proportionierte Ordnung. Zudem werden die Großformate durch Mehrteiligkeit unterbrochen. Die Abschnitte der Fassade, zueinander asymmetrisch geordnet, doch mathematisch streng kalkuliert, drängen über sich hinaus. Die Fassaden erscheinen nicht als typisierte Gebäude, sondern als rhythmisierte Masse. Die aus der genauen Beobachtung erwachsene Behandlung des Sujets wird von musikalischer Formvorstellung durchdrungen.

In den späteren Bildern, in den Zyklen Häuser am Hang (1987–88) und in den Fassaden von 1989/90 verschwinden die naturalistischen Elemente. Auf die Schattenschrift der Hausfront des Schauenden wird ebenso verzichtet wie auf das Spiel mit Fensterläden und Vorhängen; Fensterkreuze und Gesimse verlieren sich. Die Fassaden werden zusehens serieller. Alle Elemente des Bildes werden in den konstruktiven Gesamtplan des Bildes integriert. Die Fassade ist nicht länger Anlaß für naturalistische Zeichen, das Licht beleuchtet nicht mehr den Gegenstand. Beide gehen jetzt in eine monotone Bewegung serieller, identischer Elemente über. Die Dynamik dieser linearen Bewegung aber läuft leer und schlägt in Statik um.

Aufgelöst wird auch der zentralperspektivische Standort des Betrachters. Die Fassaden, die in mittelalterlicher Parallelperspektive ins Unendliche zu laufen scheinen, verlieren zugleich die Distanz und rücken auf den Betrachter zu; bisweilen werden sie vergrößert wie unter einem imaginären Mikroskop, drängen gegen den Rahmen und überwachsen gewissermaßen den Betrachter. So entsteht der Eindruck eines gleichförmigen, übermächtigen und ausweglosen Raumes.

Diesem doppelten Verschwinden: des Schauenden als auch des Geschauten, dieser Absenz von Menschen und noch der Zeichen, die auf sie deuten, entspricht in den Bildern Ute Pleugers der Rückzug des expressiven Subjekts aus dem Akt des Malens selbst. Die Abwesenheit des Subjekts ist nicht nur Thema dieser Arbeiten, es reicht vielmehr bis in die Materialdisposition selbst hinein. Jeder ausdruckshafte Gestus ist vermieden. Eine eigenartige Technik, die Farbe stark verdünnt auf eine farblose Acrylgrundierung weniger aufzutragen als einzureiben, ermöglicht, Pinselspuren nahezu unsichtbar werden zu lassen. Statt des Strichs erscheinen fast durchsichtige Farbschichten von leuchtender Transparenz. Dadurch wird die kompakte Solidität des Gegenstandes aufgelöst; die Fassade wird zu einer Imagination auf der porigen, materialen Oberfläche der Leinwand.

Dieses zusammen: die fortschreitende Reduktion und Transparenz der Fassade, die serielle Wiederholung der Grundelemente in identischer Form, ihr linearer und höhepunktloser, gewissermaßen gleich-gültiger Ablauf, die ausschnitthafte Vergrößerung, die Abwesenheit von Menschen macht aus den Fassaden ebenso übermächtige wie faszinierende, imaginative wie erloschene Objekte. Die Verwandlung des Sujets deckt nicht neue Dimensionen des Gegenstandes auf, bringt nichts zur Erscheinung. Im Gegenteil: das Dargestellte verschließt sich und verstummt. Darin liegt das Paradoxe der Bilder Ute Pleugers. Es ist die paradoxe Kunst einer wiedergefundenen, intimen Fremdheit.

aus dem Katalog: Ute Pleuger – Fassaden, Goldrausch I, Künstlerhaus Bethanien Berlin 1990

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Künstlerhaus Bethanien, Berlin »Goldrausch I« · 1990