Kathrin Becker: Das Fenster zum Hof

Über die Arbeiten von Ute Pleuger

„Der Künstler, insbesondere der Schriftsteller, hatte ich von ihm gehört, sei geradezu verpflichtet, von Zeit zu Zeit ein Krankenhaus aufzusuchen, gleich, ob dieses Kran-kenhaus nun ein Krankenhaus sei oder ein Gefängnis oder ein Kloster. Es sei das eine unbedingte Voraussetzung. Der Künstler, insbesondere der Schriftsteller, der nicht von Zeit zu Zeit ein Krankenhaus aufsuche, also einen solchen lebensent-scheidenden existenznotwendigen Denkbezirk aufsuche, verliere sich mit der Zeit in die Wertlosigkeit, weil er sich in der Oberflächlichkeit verheddere.“
— aus: Thomas Bernhard, Der Atem, Berlin 1983, S. 234

I. Gegenwärtig quält sich die Kunstkritik mit Versuchen, der Malerei, dieser mehrfach totgeglaubten Erscheinung, zu einer Daseinsberechtigung zu verhelfen. Allen Diagnosen über den Tod der Malerei zum Trotz wird immer noch – und schon wieder – gemalt, und es scheint, daß die Frage, warum oder ob wir Malerei heute brauchen, einer dringenden Klärung bedarf. Das Spektrum der Antworten reicht von l’art-pour-l’art-verdächtigen Ansätzen der Kategorisierung der Malerei als letztem Refugium eines „unentfremdetenTuns“ (1) bis zur Thematisierung primär medialer Aspekte der Malerei (2), die in Aussagen mündet, in denen das Tafelbild als isoliertes ästhetisches Phänomen abgelehnt wird. Das Schwierige an den Rechtfertigungsstrategien der Malerei scheint zu sein, daß ihr nicht beizukommen ist mit innovativen Ansprüchen und daß sie unseren Fortschrittsglauben an die Kunst permanent hintertreibt. Dennoch können wir von der Malerei endgültig nie lassen, und offenbar gibt gerade das Anlaß zur Besorgnis.

II. Ute Pleuger malt schon seit Mitte der 80er Jahre Fassadenbilder. Die Fassade ist ihr aber nicht Kulisse für dahinter vorsichgehende, zu beschreibende Ereignisse, sondern Thema ist vielmehr der Blick auf die Fassade selbst. Daher mußte ich bei ihren Bildern auch augenblicklich an Alfred Hitchcocks Film Das Fenster zum Hof denken, der gleichermaßen den Blick auf die gegenüberliegende Fassade thematisiert. Hitchcocks Film lebt von der Spannung zwischen der absoluten Ereignislosigkeit hier, wo der Antagonist zur Bewegungslosigkeit, d.h. zum Schauen gezwungen ist, und den verwickelten, extremen Ereignissen hinter der gegenüberliegenden Fassade dort. Einzige Brücke zwischen Hier und Dort ist dieser langandauernde Blick, denn im Grunde bezieht sich die gegenüberliegende Fassade immer auf den Anderen und hat mit der Welt hier überhaupt nichts gemein. Ute Pleuger beschäftigt dieses Dort gleichermaßen, nur geht es ihr nicht um Ereignisse hinter den Mauern gegenüber, sondern um das Abstraktum der Fassade in ihrer eigenen räumlichen Konstellation, ihrer Beziehung zum umgebenden Raum und schließlich dem Kontinuum von Bildfläche und bildinnerem Raum. Somit finden sich auf den Fassaden keinerlei Hinweise auf Menschen, wie ihnen zunehmend alles Individuelle genommen ist. Die Fassaden, die Pleuger fixiert, sind entmenschlicht und anonym, und im Zusammenhang mit dem Prinzip der Serialität der Fassaden führen sie uns eine brutale Realität der Entfremdung des Menschen von seiner Umgebung vor.
Daß Pleuger sich seit rund einem Jahrzehnt ein und demselben Motiv widmet, scheint eine Merkwürdigkeit zu sein im Zeitalter der flüchtigen digitalen Bilder. Die Wiederholung des Bildmotivs und die Serialität der Bilder scheint diese Flüchtigkeit zurückdrängen zu wollen. Ute Pleuger malt immer weiter über den Blick auf die Fassaden, und das Andersartige der Malerei im Verhältnis etwa zur Fotografie liegt schon hier, daß die Malerei immer eine entscheidend durch Konstruktion bestimmte Aneignung der Welt ist.

Die Reduktion des Abbildhaften, die sie in der Malerei durch den Verzicht auf Details und eine reduzierte Farbigkeit erreicht, ist in den Stempelbildern auf Packpapier noch hypertrophiert: Die die Fassade konstituierenden Elemente sind umgesetzt in einzelne „Stempel“, d.h. geometrische Druckformen, aus denen sich die Fassaden zusammensetzen. Es geht Pleuger um gerade diese Grenze zwischen Abbildhaftem und Abstraktion, die sie als Schneide zwischen „Illusionismus“ einerseits und „Muster“ andererseits beschreibt. Damit sind zwei unterschiedliche Rezeptionsweisen gemeint, die des Wiedererkennens und die des Sehens als „apperzeptiver Tätigkeit“ (3). Die Abstraktion wird durch die Serialität der Bildelemente vorangetrieben; die Fassade wird einer ordnenden Systematik unterzogen, die in die Wiederholung von einzelnen Bildelementen mündet. Dabei ist sicher Pleugers Beschäftigung mit Messiaens Musik von Bedeutung, die ihr die Prinzipien der Ausprägung einer Systematik nahebrachte. Das Hervorbringen von räumlicher Atmosphäre, wie es das Instrument der Orgel mit seinem weitausgeprägten Raumbezug und polyphonen Charakter tut, ist ihr ein Anliegen in der Malerei.
Der Andersartigkeit von Malerei in Bezug auf die Aneignung von Welt entspricht auch ihre sukzessive Entstehung. Indem Pleuger fragt, welche räumlichen Vorstellungsmöglichkeiten das Bild bietet, bedient sie sich aber auch einer Methodik, wie sie die Fotografie und der Film benutzt: den Methoden der Nahaufnahme, Vergrößerung, des Ausschnitts. Durch die Unmöglichkeit der Erfassung des Bildes als Totalität und die Notwendigkeit des allmählichen SichEinsehens, durch die Anwendung verschiedener Betrachterstandpunkte in einem Bild, durch die Vorantreibung der Grenzen zwischen Abstraktion und Wiedererkennbarem, durch die scheinbar unsymmetrische Verlegung der Bildschnitte mitten durch die Fassade (bei den Polyptychen) hat die Wahrnehmung ihrer Bilder eine Ähnlichkeit zu der Wahrnehmung von Film, insofern das Auge des Betrachters permanent in Bewegung versetzt ist (4).
Körperlich in Bewegung versetzt wird der Betrachter dabei um so mehr bei der Rotunde, die er erwandern muß. Dabei – wie etwa schon in Krankenhaus und Parkhaus – ist das perspektivische Sehen verunsichert, insofern durch die Verschiebung des Fluchtpunkts in den einzelnen, das Bildganze konstituierenden Fassadenelementen eine Art imaginäre Drehbewegung im Betrachterstandpunkt ausgelöst wird. Es gibt keinen Standpunkt mehr vor dem Bild, und es ist vielleicht die eigene Ortlosigkeit, die angesichts dieser nüchternen Ortsbeschreibungen der Fassaden ein Unbehagen vor Pleugers Bildern hervorruft.

III. Die Bilder Ute Pleugers handeln von der Aneignung von Wirklichkeit und beziehen sich also nicht auf das Wesen der Dinge, sondern auf das Wesen der Erscheinung. Das, was Pleuger konstruiert, sind analoge Entsprechungen zum Illusionismus der Realität, so daß das Substantielle der Realität um so deutlicher hervortritt.
Bei den Diskussionen um das Ende der Malerei, die keinesfalls eine neue Erscheinung sind, erfuhr – wie eingangs erwähnt – der Aspekt der Thematisierung der Malerei als Medium eine gewisse Überbetonung, und wurde in Zusammenhang gebracht mit einer Geschichte der „reflexiven und selbstanalytischen Aufklärung der Malerei“ (5), die mit dem Einbruch der Moderne zu beginnen sei und besonders durch die Erfindung und Popularisierung der Fotografie katalysiert würde. Was die Malerei aber auch zu leisten vermag, ist, als eine Art „Filter“ Distanz zu schaffen, indem sie von der Realität abstrahiert (6). Indem die Malerei uns in das Dort involviert, wir uns also in die gegenüberliegende Welt begeben, können wir nach draußen schauen, in die Welt. Damit ist die Malerei heute als „unverdächtiges Vehikel zur Camouflage und letztes Refugium der Mythologie der Individualität“ nutzbar, um „die Illusionen der Gegenwart zu dekonstruieren“ (7).

aus dem Katalog: Ute Pleuger – Serielle Räume – Arbeiten 1982–1996, Museum der Dinge – Werkbund-Archiv im Martin-Gropius-Bau Berlin 1996, ISBN 3-00-011665-6

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Wohntürme · U-Bahnhof Alexanderplatz Berlin · 1995

Rotunde · Martin-Gropius-Bau Berlin · 1996

(1) Vgl. Raimund Stecker im Gespräch mit Martin Henschel und Heinz-Norbert Jocks, Gegen die Gewalt des Neuen und für das Abenteuer der Malerei, in: Kunstforum International, Bd. 131, August/Oktober 1995, S. 268 ff.
(2) Vgl. Peter Weibel (Hrsg.), Katalog Pittura Immedia – Die Malerei in den 90er Jahren zwischen mediatisierter Visualität und Visualität im Kontext, Klagenfurt 1995; vgl. Thomas Wulffen, Malerei als Medium im gleichnamigen Katalog, hrsg. v. Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 1995
(3) Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1916
(4) Vgl. Paul Virilio, Der negative Horizont, München 1989. Virilio konstatiert, daß der Film erstmals die „Einheit von Transport- und Medienmaschinen“ objektiviere. Der Film ist nicht nur auf die Darstellung, Wiedergabe und Speicherung von bewegten Objekten ausgerichtet, sondern bringt neue Wahrnehmungen durch die Bewegung des Körpers des Betrachters (des Auges) hervor.
(5) Vgl. Johannes Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, in: Kunstforum International, Bd. 131, August/Oktober 1995, S. 203
(6) Vgl. Stephan Schmidt-Wulffen im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks: Der Filter der Malerei, in Kunstforum International, Bd. 131, August/Oktober 1995, S. 278
(7) Thomas Lawson, Last Exit: Painting, in: Artforum 20/Nr. 2, Oktober 1981, S. 40 ff., zit. n.: Silvia Eiblmayr, Die Augen der Nacht-Kreaturen, in: Katalog Marlene Dumas Models, Salzburg, Frankfurt a.M., Berlin 1995-1996, S. 8