Uwe Gellner: Einfache Fuge #4–7

Das Wort „Fuge“ ist der Musik entlehnt. Musikgeschichtlich wird die Fuge besonders mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach verbunden. (1) Stilmittel der Fuge ist die Verwendung einheitlichen thematischen Materials. Der das Thema einer Fuge einführenden ersten Stimme, auch Dux (lat. Führer) benannt, folgt die zweite Stimme, auch Comes (lat. Begleiter) benannt, welche das Thema in eine andere Tonart hebt, vorzugsweise im Quintabstand. Oft sind es 4-5 Stimmen, die alle ebenfalls das Thema in wechselnden Tonarten singen, das kann in Dur und in Moll sein. Damit nicht genug, kommt zusätzlich noch eine weitere Melodie ins Spiel, deren Aufgabe es ist, die Klangfolgen des Themas kontrapunktisch zu überlagern. Dies heißt, mehrere Melodien erklingen zur selben Zeit, in Polyphonie.

Der grafische Zyklus Fugen von Ute Pleuger entstand 2000–2009. Die Ausstellung zeigt mit den vier großen Drucken nur einen kleinen Teil daraus. Hierbei handelt es sich um die Einfachen Fugen #4–7, in welchen jeweils ein Thema entwickelt und kontrapunktisch überlagert wird. Der gesamte Zyklus umfasst 58 Drucke, neben den Einfachen Fugen einige Doppel– und Tripelfugen aus mehreren Drucken, sogar eine Große Tripelfuge aus sieben Drucken und am Ende eine Quadrupelfuge, deren vier Themen alle im selben Druck verschmelzen und kontrapunktisch überlagert sind. Nehmen wir an, musikalische Klangfolgen seien tatsächlich jeweils das Ausgangsmaterial für die grafischen Kompositionen aller Drucke, so können wir dieses Gedankenspiel nicht zurückverfolgen und uns sicher sein. Nicht in ihrer Rückführbarkeit, sondern in der Darstellbarkeit von Fugen im Bildlichen liegt die grafische Intention der Künstlerin. Weil es zweifelsohne Grenzen in einer äquivalenten Übersetzung von Musik und Bild gibt, will Pleuger diese Grenzen für sich ausmessen. Ihr Vorhaben beabsichtigt mehr als nur Metaphorik, denn alle künstlerischen Ausdrucksweisen wenden sich an den ganzen Menschen.

Ähnlich den Fugen in der Musik, entwickelt Pleuger für ihre grafischen Fugen einen konzeptionellen Rahmen, mit dem sie die Übersetzung des Kompositionsprinzips der Fuge aus der Musik ins Bild verbindlich regelt. Da die Künstlerin auf den zeilenförmigen Ablauf verzichtet, wie ihn Partituren aufweisen, verliert sich die für jede Musik so entscheidende Zeitleiste. Anstelle dessen bieten sich auf der weißen Bildfläche offene Wege in alle Richtungen, um das Thema der Fuge von jedem Punkt aus räumlich ausdehnen zu können und entsprechend der Anzahl ihrer Stimmen oder Elemente im selben Moment, wie im Chor, zu imitieren. Im Ergebnis überzieht alle Drucke der Grafikfolge ein gleichmäßiger Bildrhythmus und faktisch weist der sogar über die großen Formate hinaus, denn die Blattränder sind Schnittkanten. Dux und Comes finden sich netzförmig verteilt, was bedeutet, sie wurden zu Doppelgängern in beiden Rollen, je nachdem von wo aus unsere Augen nach Verbindungen oder Ähnlichkeiten zwischen den Elementen zu suchen beginnen. Den Takt ihrer Verteilung bestimmen Form und Maß. Bis hierhin im Bildaufbau überschaubar, sorgt die kontrapunktische Überlagerung durch eine weitere Melodie, einen vorsichtig insistenten Übergriff auf den gesamten Bildaufbau, für Irritationen im System, besser gesagt, für dessen besondere grafische Komplexität. Flüchtig besehen eine Angelegenheit der Geometrie, erweist sich die Ordnung bei genauer Betrachtung als visueller Gleichklang aus einer Vielzahl von Stimmen, welche dieselben Situationen nie identisch erleben, sondern nur beinahe. Alle Elemente hören aufeinander und erscheinen miteinander, doch keines ist bereit, sich im anderen aufzugeben. Diese Bildordnung in Schwarzweiß illustriert konzeptionell die Stilbesonderheiten der Fuge, die fortlaufende Imitation des Themas in polyphoner Durchdringung.

Aufgrund der Abmessungen der Drucke ist ihre Präsenz im Raum beachtlich und das breite Spektrum der grafischen „Klangfarben“ ausgesprochen wirkungsvoll. Was außer Intuition kann es gewesen sein, die Pleuger gerade diese Elemente auswählen ließ, um Fugen daraus zu bilden und nicht andere, oder stellt sich hier die Gegenfrage, warum andere, wenn es diese sein können? Die etwa zehn Jahre müssen ausgefüllt gewesen sein, in denen Pleuger am Zyklus ihrer grafischen „Partituren“ gearbeitet hat, in denen sie die Teilmotive für alle 58 Drucke von Hand in Linoleum geschnitten und nachfolgend von Hand abgedruckt hat. Der immense Umfang der Arbeit an den Fugen setzt ein starkes Motiv voraus. Hier kann auf die große Nähe und Liebe zur Musik in ihrem gesamten Leben verwiesen werden, welche die Künstlerin im Gespräch äußert. (2) Dieser Zyklus ist ganz klar der Ausdruck und Inhalt persönlicher Identifikation.

aus dem Katalog: Ambitus – Kunst und Musik heute, Kunstmuseum Kloster Unser lieben Frauen Magdeburg, 2018, ISBN 978-3-9816665-6-4

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Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg »AMBITUS – Kunst und Musik heute« · 2018

(1) Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier BWV 846–893, Die Kunst der Fuge BWV 1080

(2) Ute Pleuger im Gespräch am 24. Juli 2018