Reiner Niehoff: Zeit als ewige Wiederkehr (Eröffnungsrede)

Sehr verehrte Damen und Herren,

die Bilder Ute Pleugers, die Sie in dieser Ausstellung sehen, erstrecken sich zwar über einen Entstehungszeitraum von zehn Jahren; die frühen Gouachen stammen aus der Zeit eines zweijährigen Studienaufenthaltes in Paris 1983-85, die letzten Bilder, die Reihe der „Eckhäuser“, sind im laufenden Jahr entstanden. Gleichwohl haben sie, das ist offensichtlich, ein gemeinsames Thema, nämlich die Stadt: Vorder- und Hinterhausfassaden, Reihen-, Hoch- und Einfamilienhäuser, schlichte Hauswände. Ein Thema, das ein Dezennium hin durchgehalten, weiterentwickelt und variiert wird. Durch die unterschiedlichen Techniken von Gouache, Ölbild und Linoldruck wird es fortschreitend reduziert und schablonisiert.

Den auch chronologischen Anfang machen die frühen Pariser Gouachen. Ihr Aufbau ist deutlich: Aus einem „inneren“ Raum, der in romantischer Tradition durch das Fensterkreuz markiert und begrenzt wird, fällt der Blick auf die Fassade, die in nachmittäglichem und nahezu nächtlichem Licht changiert. Weniger die Fassade selbst ist hier das Thema, als vielmehr der Blick, der auf die Fassade fällt. Denn es ist dieser Blick, der das Licht in eine streng auskomponierte, durch das Fensterkreuz gestützte, durch die Reihung mehrerer Bilder quasi rhythmisierte Ordnung bringt. Ein ambivalenter Blick: zugleich konstruktiv und kontemplativ, überzieht er die äußere Welt mit Dunkelheit. Für mich deutet diese Komplizität mit der Nacht auf einen mystischen Blick, in dem Innen und Außen sich, am Rande des Versinkens, in der dunklen Ordnung des Bildes durchdringen.

Die großen Ölbilder erscheinen im Gegensatz zu den Gouachen zunächst weit realistischer. Balkone, Fenster, Hauswände treten nun plastisch und so schmucklos hervor, als sei das Ornament ein Verbrechen. Lichtquelle ist deutlich die Sonne. Der „innere Raum“ der Schauenden ist verschwunden. Gleichwohl ist diese Realistik verstört. Denn zum einen ist das ‘Licht’ hier nichts anderes als ausgesparte, nackte Leinwand, die nun, durch diesen Akt einer seltsamen malerischen Verkehrung, selber leuchtet. Zum anderen wird die Ölfarbe weniger auf den Bildträger aufgetragen, als in die Leinwand eingerieben. Durch dieses Verfahren wird ein gewissermaßen surrealer Effekt erzeugt: die massiven Fassaden erscheinen transparent; nicht wie ein Bild, sondern wie die Projektion eines Bildes. Auf dem Hintergrund der Gouachen wird die Bedeutung klar: es handelt sich hier um die Imagination eben jenes Blickes, der die Pariser Bilder auszeichnet. Ute Pleugers Bilder sind, aller Realistik zum Trotz, Bilder einer „inneren Erfahrung“.

Und als solche ebenso faszinierend wie unheimlich. Die endlosen Wiederholungen der wenigen Grundelemente, der Fenster, Balkone und Gesimse, schließen sich zu (Bild-) Abläufen zusammen, die immer schon begonnen haben und sich, nach dem kurzen Vorübergleiten auf der Leinwand, endlos gleich und gleichgültig fortsetzen werden. Dem entspricht ein kompositorisches Verfahren, das die Fenster und Balkone nicht mit dem Bildrahmen in Deckung bringt, sondern sie an den Bildrändern gewissermaßen „angeschnitten“ hat und damit auf ihr Fortlaufen verweist.

Dieses Wechselspiel zwischen der monumentalen Statik der Fassade und der Dynamik der wenigen Grundelemente wird unterstrichen noch dadurch, daß die Bilder durch Mehrteiligkeit unterbrochen und durch Reihungen fortgeführt bzw. wiederholt werden. So eindeutig der konstruktive Gesamtplan der Bilder ist, so erzeugen doch die asymmetrischen Unterteilungen und das in ihnen fortgesetzte Prinzip der äußert variablen Anschnitte eine Art fließende Wiederholung.

Dazu kommt, daß die Bildformate Ausmaße annehmen, die es dem Betrachter verbieten, das Bild als optische Totalität, „mit einem Blick“ zu erfassen. Die Folge ist ein unfixierter Blick, der in die Bewegung des Bildes, in seinen Sog hineingezogen wird. Wo aber der augenblickhafte, totale Blick auf das Bild unmöglich wird und in das Nachvollziehen einer fließenden Bewegung der Elemente überführt ist, erzeugt das Bild Zeit. Und um Zeit geht es in diesen Bildern: Zeit als ewige Wiederkehr, als übermächtige Fatalität. Die Bilder Ute Pleugers versuchen, wenn man so sagen darf, eine Refatalisierung unserer entzauberten Welt.

„Übermächtig“ erscheinen sie dabei auf Grund ihrer extrem ausschnitthaften Vergrößerung, meistens verbunden mit starker Unterperspektive. Weiter ist den Bildern jeglicher Boden, jede Stabilität genommen. Dadurch ist der Standpunkt des Betrachters gleichsam schwebend. Verunsichert wird darüber hinaus das perspektivische Sehen. So verbreitern sich die überhängend ansteigenden Balkone in den „Eckhäusern“ von 1993 nach oben, anstatt, wie man es erwarten würde, sich zu verengen. Aggressiv okkupieren diese Balkone den Raum. Bedrohlich ragen sie mit ihren lichtlosen Fenstern in einen Himmel, der zusehens an den Rand gedrängt erscheint. Monumental bewegen sich die Fassaden in die Breite, ohne doch ihr Inneres, ihr Geheimnis auch nur andeutend preiszugeben. Auch das mag auf Fatalität verweisen. Es macht auf jeden Fall einsichtig, warum Ute Pleuger eine Bilderfolge zu einer Erzählung von Franz Kafka ausgearbeitet hat.

Die Linoldrucke von 1992 gehen noch einen Schritt weiter als die Ölbilder. Sie inthronisieren die Serie. Eine Druckvorlage, die Ute Pleuger signifikant „Stempel“ nennt, sorgt nun für die Identität der abbildhaften, „gestempelten“ Elemente. Nur noch zufällig, nämlich durch den spontanen Hand-Druck auf den Stempel und durch den Pinselauftrag des Schwarz auf die Linolplatte, unterscheiden sich die Motive. Farbe ist in diesen Drucken ebenso eliminiert wie das warme Licht der Gouachen und Ölbilder. Die großen Fassaden sind zu Häusern geschrumpft, die nun wie Geflechte den Bildraum füllen. Sie sind auf die Schablone reduziert. Als Bildträger ist graues Packpapier gewählt. Jegliche Konzession noch an die Sinnlichkeit der früheren Bilder ist fast puritanisch vermieden. Die Fatalität aber ist damit zum ästhetischen Verfahren geworden. Denn was brächte Unendlichkeit, diese schlechte Unendlichkeit, besser zum Ausdruck als ein Stempel?

Und nur die Aufsicht, die als neuer Blickpunkt eingeführt wird, – der Blick von oben, dem ja das olympische Gelächter folgt – mag andeuten, in welche Richtung sich die Beschäftigung Ute Pleugers mit Haus und Fassade bewegen wird. In die Richtung einer ironischen Brechung noch der eigenen Intentionen. Denn fatal, meine Damen und Herren, fatal ist das Reihenhaus. Danke.

Rede zur Eröffnung der Einzelausstellung im Schering-Kunstverein Berlin am 16. 6. 1993

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