Ulrike Lorenz: Vor den Bildern von Ute Pleuger

Vor den Bildern Ute Pleugers ereilt uns Zweifel. Das Auge, im Anflug über freie, leicht atmende Flächen gleitend, erfaßt beim Herantreten Streifenspuren, saugt sich in Farbfurchen fest, beginnt die Bahnen, die ein grober Pinselquast in Malpaste und Acrylfarbe hinterließ, systematisch abzutasten, kehrt an den Rändern ratlos um, umschifft weich zerflossene Hügel, stolpert durch eingekratzte Rinnen, überspringt wässrige Perlenschnüre, stockt an schlierig ausgetrockneten Tümpeln, durchmißt, sicherer geworden, Spur um Spur das Bildfeld, erklimmt Zug um Zug die vorgegebene Höhe – und macht sich von neuem auf den Weg. Doch es bleibt ungewiß, was hier zu sichten wäre: ein zur Saat aufbereitetes Feld, eine sanft bewegte Wüstenlandschaft, ein träger Strom oder die extreme Vergrößerung eines Asphaltstückes, einer Holztextur, eines Bindegewebes; der Blick aus dem Flugzeug oder durch ein Mikroskop; eine Perspektive von oben schräg über die karge Erscheinung hinweg oder von unten an ihr empor. Beim Wandern über die amorphe Ebene stoßen wir, selten aber regelmäßig, auf fest Geformtes, winzige Widerstände anderer Konsistenz (und Realität), die sich, aus nächster Nähe, als Häuser zu erkennen geben, doch in ihrem ungerührten Gleichmaß eher Zeichen, Begriffsbild als Heim und Herd sind, jedenfalls keine Hoffnungsinsel und auch nicht optischer Bezugspunkt. Denn das Auge, angelockt von Material und Gestus, irrt in uferlosen Feldstrukturen umher, die weder Horizont noch Fluchtpunkt kennen, verfängt sich im weitmaschigen Streumuster der Architektur, ohne Halt zu finden auf der Suche nach dem Weg in die dritte Dimension (oder nach der verlorenen Zeit). Unser gieriger Blick, der endlich hinaus will ins Offene, in die Ferne eines vorgestellten Bildraumes oder in die Tiefe unserer Erinnerung, gleitet an der Oberfläche ab und wird wie in einem Spiegel zurückgeworfen in die Gegenwart des gescheiterten Schauens. Die in die Vertikale gekippte Ebene gibt keinen Bildraum frei, sondern vibriert im gleichwertigen Vorweisen aller Elemente und aller Richtungen, in der Gleichzeitigkeit von Anziehung und Abstoßung des begehrenden Blicks, im vagen Versprechen einer Illusion und ihrer Verweigerung. Und erschöpft von der Vergeblichkeit unseres Verlangens treten wir endlich zurück – vis-à-vis jene zweifelhafte Fläche, die uns eben noch umschloß, ohne uns aufzunehmen. Nur soviel scheint sicher: das Bild, deutlich überlebensgroß, sechsfach wiederkehrend in kaum spürbaren Formvarianten und diffusem Licht, wechselnd zwischen Nachtblau und grau-grün schillernder Taghelle, ist ein zufälliger Ausschnitt aus einem Unendlichen.

Ute Pleuger hat diese sechs Großformate ohne Titel, die in Gera ein erstes Mal gezeigt werden, in einer eigens ertüftelten Technik gemalt: auf feines Linnen, unkörperlicher Grund für die folgenden Malschichten, wird grobes Packpapier als eigentlicher Bildträger kaschiert und mit Acryl farblos grundiert. Es folgt in einem einzigen Arbeitsgang das Aufbringen des gestisch naturhaften Fonds, der das Bild konstituiert: verdünnte Acrylfarbe oder ein dickflüssiger Brei aus Acryl und Methylzellulose wird mit hartem Borstenpinsel und ganzem Körpereinsatz in rhythmischen horizontalen Zügen gleichmäßig rasch über die gesamte Fläche verstrichen und hinterläßt beim Abtrocknen jene markanten Verlaufs- und Verdunstungsspuren, die als „Duktus“ die feinnervige Individualität jeder Tafel bestimmen. Das monochrome Preußischblau, Farbe der Ferne, ist Mitakteur im Arbeitsprozeß und entwickelt in verschiedenen Mischungsverhältnissen jeweils andere Handlungsmuster und Abtönungen. Im intuitiv gesteuerten Umgang mit dem Material, beim konzentrierten Ausbalancieren von Kalkül und Zufall schlägt sich die gesammelte Erfahrung der Malerin nieder. Als letzte „Schicht“ werden die Häuser, abstrakte Formhülsen, eine Variante pro Bild, in Öl aufgesetzt: ein präzise definiertes System von Lichtern, malerische Höhung und Einbruch einer zweiten Realität, einer anderen Bewegung zugleich. Denn durch einen Schattenstrich unmißverständlich von ihrem Untergrund getrennt, scheinen die Häuser in kalter Stereometrie über dem Fond zu schweben und, unberührt von dessen Natur, Boten oder Statthalter einer fremden Kultur zu sein. Die Architekturen erweisen sich als technisch konstruierte Knotenpunkte eines imaginären Netzes, das in verunsichernder Parallelverschiebung über die „gewachsene“ Ebene ausgespannt ist, ohne sich mit dieser zu verbinden, um in ihr einen Raum zu bilden: Ort oder Landschaft.

Serielle Räume nannte Ute Pleuger ihre Architektur- und Fassadenbilder, die bis 1996 in Berlin entstanden: minimalisierte und rhythmisierte Flächenmuster, die mit der Wiedereinführung der mittelalterlichen Parallelperspektive eine beunruhigende Dialektik von Unendlichkeit und Distanzlosigkeit entfalteten. Ihnen folgte, ausgelöst vom Erleben brandenburgischer Acker- und israelischer Steinwüsten, eine Serie von Landschaften, in denen sich ein radikaler Dualismus von Oben und Unten, Himmel und Erde, unter dem Titel Aufhebung formulierte. Im neuen Zyklus der sechs Einzeltafeln, dem die Malerin jeden Kommentar versagt, wird ein imaginärer Raum von vollendeter Transzendenz vorgeführt. In Endlosschleifen pulsieren Mimesis und Materie. Und den Betrachter überfällt Schwindel auf der Schwelle zwischen Bild und Begriff; im Schatten der Dinge, die sich ihm im (ewigen) Moment des Erfassens entziehen; im Zwiespalt zwischen Auge und Erinnerung, der Ahnung von Welt und dem Widerschein seiner Empfindungen. Vor diesen undurchdringlich vibrierenden Folien, zu denen Ute Pleuger jüngst gefunden hat, erfahren wir vor allem eines: wie das Bild in einem geistigen Prozeß erst erzeugt wird und wir uns dabei – in einem „Aufflug der Gedanken vom Körperlichen zum Unkörperlichen“ (Petrarca) – selbst vergegenwärtigen.

Publiziert in folgenden Katalogen:
Ute Pleuger – Serielle Räume II – Arbeiten 1997–2000, Villa Kobe Halle/Saale 2000, ISBN 3-00-011666-4
Dix-Preis ’98, Kunstsammlung Gera 1998, ISBN 3-910051-22-7

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ohne Titel · 200 x 140 cm · Acryl, Öl auf Packpapier auf Leinwand · 1997

ohne Titel · 200 x 140 cm · Acryl, Öl auf Packpapier auf Leinwand · 1997