Uwe Haupenthal: Von den Seriellen Räumen zum Atlas zur Neuen Natur

Nicht selten irritieren die oft großformatigen Bilder Ute Pleugers. Eine „optische Verrückung“, die auch bei eingehender, lang anhaltender Betrachtung nicht nachzulassen scheint. Durch Fenster strukturierte Hausfassaden etwa heben Formbegrenzungen und vorgegebene Begrifflichkeit teilweise oder gänzlich auf.
Erfahrung von Wirklichkeit erscheint nicht länger in unmittelbarer semiotischer Übertragung des tatsächlich Gesehenen, wenngleich auch die Vorstellung des Abbildhaften als thematisch-verbindlichem Widerpart nicht vollkommen aufgegeben wird.
Es ist dies eine Konzeption, die nicht allein eine immer wieder neu zu findende Kongruenz von thematischer Vorgabe und der Wirkmächtigkeit der jeweils inszenierten, begrifflich nur wenig gebundenen Komposition bedingt. Die auktoriale Stellung der Künstlerin wie diejenige des Betrachters muten in dieser Konstellation seltsam diffus an. Das Bild dominiert die Sehgewohnheiten des Betrachters und setzt diese letztendlich gar außer Kraft. Systematisch werden unterschiedliche bildnerische Möglichkeiten ausgelotet und gleichwertig nebeneinander gestellt.

Ihrer architekturbestimmten thematischen Ausgangslage verpflichtet, konzentriert sich Ute Pleuger zunächst auf eine konstruktiv angelegte Bildgenese. Die in den Jahren 2000 und 2001 in Mischtechnik ausgeführte grafische Serie Atlas zur Neuen Natur hingegen kehrte erstmals das Prinzip vorgefundener, standardisierter, geometrischer Formverwendungen um. Daraus resultiert eine Formenwelt, die teils an einfache Pflanzenschemata, vor allem aber an den sichtbar gemachten Aufbau von Genen erinnert. Die mit dem Finger ausgeführten farbigen Strukturen werden übermalt und in verschiedenen grafischen Techniken überarbeitet. Begrenzende, gleichmäßig wiederkehrende Farbstege wie das Zusammentreffen unterschiedlicher malerischer und grafischer Farbsubstanzen bedingen eine geradezu anspringende, objektivierende Wirkung.
Sie steht im Übrigen keinesfalls im Widerspruch zu Ute Pleugers allgemeiner Werkentwicklung. Denn auch in früher entstandenen Bildern begründet die Präsenz der lasierend aufgetragenen Farbe im Materiellen wie im Optischen eine von aller inhaltlichen Gebundenheit befreite, autonome bildnerische Ebene. In diesen Bildern gibt es einen nicht aufhebbaren Gegensatz zwischen übereinander liegenden stumpfen und leuchtenden Farbschichten. Analog bedingt Ute Pleugers serielle Bildanlage im Formalen eine sich prinzipiell erweiternde, offene Form, so dass sich ohne weiteres die Vorstellung eines sich ausdehnenden Universums einstellt.

Genealogisch setzt der Atlas zur Neuen Natur nicht nur diese Haltung fort, sondern erhebt sie sichtbar zur unabdingbaren Voraussetzung. Die mitunter geradezu formlosen Gebilde gründen in einer gewissen Zufälligkeit und fordern mit Selbstverständlichkeit eine Vielzahl prinzipiell gleichwertiger Variationen. Auf diese Weise entstand ein Bildkompendium, dessen systematisierte, auf insgesamt 90 Blätter zyklisch angelegte, Schautafeln nicht unähnliche Präsentation zwar nachvollziehbar auf nüchterne Beschreibung setzt, dabei jedoch die einzelne Form zugunsten der nur ausschnitthaft wiedergegebenen entropischen Struktur entwertet.
Vordergründig mag ein kunsthistorischer Vergleich mit Karl Blossfeldts berühmter, 1925 erstmals publizierter fotografischer Katalogisierung vergrößerter Pflanzenteile nahe liegen. Dabei kann der Gegensatz kaum größer sein! Blossfeldt erkannte in seinen Aufnahmen statisch-verbindliche, organische „Urformen“, die er zunächst als Vorlagen für seinen Unterricht im Pflanzenzeichnen an der Berliner Kunstgewerbeschule nutzte und die ihm später auch als Basis einer überaus konservativ motivierten Kritik an funktionalistischem Entwurfsdenken dienten. Ute Pleuger hingegen kümmert in ihrem Atlas nicht etwa die bildnerische Erfahrung respektive die Beschreibung der Einzelform, sondern sie unternimmt, ausgehend von einem diskursiv vorgetragenen Bildbegriff, gleichsam „bildgenetische Feldforschung“.

Das Formenrepertoire treibt seltsame Blüten, gibt sich in seiner bizarren Struktur ungelenkt und kennt keine überprüfbare abbildliche Bindung an gesehene Wirklichkeit. Erfahrung von Realität inszeniert sich in diesen Blättern vielmehr wie von selbst, gleichsam von einem imaginären Nullpunkt aus. Die Art und Weise der geordneten Präsentation erzeugt durch das Moment gleichmäßiger Wiederholung eine potenzierte Präsenz. Die phantasievollen, pseudowissenschaftlichen lateinischen Namen, die Ute Pleuger den einzelnen Blättern gegeben hat (z.B. Ovum obscurum), verfestigen den Eindruck scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität. Gleichwohl deutet sich in ihnen eine ironische Brechung an, die den sich aufdrängenden Bezug zur Genforschung ad absurdum führt.
Nüchtern und vorurteilslos wiedergegebene, zuvorderst objektivierte Darstellung von Realität kann nicht länger losgelöst von deren Wirkungspotential gesehen werden. Der dazu benötigte Bauplan beschreibt freilich einen seriellen, aus den Mitteln der Kunst resultierenden Resonanzraum, der, in Bezug auf das große, 1926 erstmals erschienene grafische Kompendium der Histoire Naturelle von Max Ernst, eben eine neue Naturgeschichte reklamiert. Die Relation zu den sich heute eröffnenden, kontrovers diskutierten Möglichkeiten der modernen Gentechnologie vermittelt eine, bildnerisch wohlbegründete, thematische Parallele, die gleichwohl nicht von vorneherein gesucht wird, gerade dadurch jedoch, angesichts der aufgeworfenen Problematik, eine um so nachhaltigere ethisch bestimmte Betroffenheit erzielen kann.

Realität zeigt sich in Ute Pleugers Bildern keineswegs als bloß theoretisch erfahrbares, illustriertes Wissen. Ihre Arbeiten erheben vielmehr den transzendentalen Anspruch, selbst ein Stück gebrochener, keineswegs abgeschlossener Wirklichkeit zu sein. Damit verdichten sie sich zu einem potenzierten Zentrum, von dem aus es möglich ist, bestimmte Aspekte der Welt zu erfassen. Ihnen wird man sich nicht entziehen können.

aus dem Katalog: Ute Pleuger – Atlas zur Neuen Natur, Richard-Haizmann-Museum Niebüll 2003, ISBN 3-00-010944-7

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Ovum obscurum aus dem Atlas zur Neuen Natur

Ovum obscurum aus dem Atlas zur Neuen Natur · 2001