Barbara Straka: Horizonte am Ende von Natur und Kunst

Die Aufhebung – ein Zyklus von Ute Pleuger

„Im je Neuen in der Kunst muß die Natur zu sehen sein. Mit ‘Natur’ meine ich den Inbegriff für die allgemeine Weltanschauung einer Zeit – buchstäblich aufgefaßt: die Art und Weise, wie die Welt zeitgenössisch angeschaut wird. Die Natur ist alles, was für eine bestimmte Zeit der Fall zu sein scheint.“
— Beat Wyss (1)

Die Aufhebung ist ein mittlerweile auf etwa dreihundert Einzelblätter angewachsener Zyklus von Acrylarbeiten auf grauem Packpapier im Format 46 × 55 bzw. 70 × 100 cm. Die Einzelblätter sind ohne Titel. Die Papiere werden zum Schutz vor Vergilbung vor der Bearbeitung mit mehreren Schichten Acryl farblos grundiert, bis sie einen leichten, matten Glanz annehmen, die richtige Konsistenz für das Auftragen der Farbe haben. Dieser Prozeß vollzieht sich teils von der Künstlerin gesteuert, teils intuitiv, teils in einem durch Material und Arbeitsverfahren genau determinierten Rahmen: maximal fünfzehn Minuten Zeit bleiben für den Farbauftrag, der als gleichmäßiger Duktus bis zum Schluß durchgehalten werden muß. So betrachtet Ute Pleuger die fertigen Blätter auch nur „zum Teil als ‘gemacht’: es geht vielmehr darum, in einen Prozeß der Farbe einzugreifen.“ Für die Technik des Aquarellierens mit Acryl hat Ute Pleuger diesen Prozeß und seine Bedingungen stark konzentriert und präzisiert; der Ablauf erfolgt fast mechanisch routiniert, vergleichbar den früheren Stempelbildern.

Es war schon zu Beginn der Serie klar, daß nur mit einer Farbe gearbeitet werden sollte, um keine Ablenkungen zu erzeugen. Als solche sind die Arbeiten streng konzeptionell. Es gilt, einen äußeren Rahmen als Evokationsraum innerer Bilder zu schaffen. Diese haben sich, so Ute Pleuger, anfangs in unüberschaubarer Zahl eingestellt, ordneten sich schließlich zu Gruppen, Typologien, Motivkomplexen, die sich vertiefen und verfolgen lassen, bis die jeweilige Bildidee ausgeschöpft ist. Zwischen Anfang und Ende ist alles im Fluß. Beide sind Eckpunkte für das Gelingen oder  Scheitern des „Dazwischen“. Wichtig ist das rechtzeitige „Aufhörenkönnen“, wichtig die Balance von Intuition und Plan. In jeder Ausführung wird etwas Verborgenes freigelegt. „Wenn man das Bild, das am Ende herauskommt, schon kennt, dann ist es eigentlich aus.“ (2)

Die Aufhebung ist erlebte Landschaft, die im bildnerischen Ausdruck nachwirkt. „Landschaft erleben ist Raum erleben, ganz existentiell“ (Pleuger). Zwei extreme Begegnungen mit Landschaft gaben nach Darstellung der Künstlerin den Anlaß zu dem umfassenden, bis heute nicht abgeschlossenen Zyklus zwischen 1996 und 1997. Ein Stipendium für das Schloß Wiepersdorf forderte eine Auseinandersetzung mit Landschaft in geradezu unausweichlicher Form heraus. Waren die seriellen Bildmotive bis 1996 durch architektonischen, urbanen Raum geprägt, so erschien der Künstlerin der ländliche Raum als undeterminiertes „Nichts“, dem es mit anderen Mitteln zu begegnen galt. Der Aufenthalt in Wiepersdorf brachte eine zweite wesentliche Begegnung mit sich: den Impuls, sich wieder mit Musik zu beschäftigen (Ute Pleuger studierte Orgel). Aus der Erinnerung beschreibt sie den Umgang mit dem ihr vertrauten Instrument „wie eine Rückkehr, nur noch intensiver“. In ihren kontemplativen Landschaften findet sie eine größtmögliche Ruhe, Stringenz und Ausgeglichenheit, Qualitäten, die ihre Entsprechung in der Musik haben. Wie die Musik ist Malerei in einer anderen Weise für sie existentiell wichtig, „daß sie einen so ungeheuer zu sich selbst bringt“. Eine Vermischung beider Medien, wie es etwa zum Lebensausdruck und zur Arbeitsweise neoexpressionistischer Künstler der frühen 80er Jahre gehörte, ist für Ute Pleuger undenkbar. „Nachts ohne Licht spielen. So male ich auch. Da gehört dann auch nichts Akustisches rein.“

Während einer Reise nach Israel im Mai 1997 suchte die Künstlerin Wüstenlandschaften auf, die ihr eine noch radikalere Raumwahrnehmung vermittelten: die „Erfahrung einer Ausgesetztheit – nicht eine Zerstreutheit wie in der Stadt; das fordert mich zu einer ganz anderen Gesammeltheit heraus“. Lösten sich die architektonischen Motive der späten 80er und frühen 90er Jahre (z.B. Palazzo, 1989; Nischen, 1990; Krankenhaus und Parkhaus, 1994) (3) in rhythmisch gleichförmige „Pattern“ auf, die – vor allem in den Stempelbildern – nurmehr die Ahnung von Raum enthielten und die Dreidimensionalität gewissermaßen bis an die Grenze der Wahrnehmbarkeit trieben, indem sie in die Vertikale der Bildfläche projiziert war, so kehrt Ute Pleuger mit der Aufhebung zu komplexeren, dichteren Motiven zurück. Die Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, Transparenz der Stempelbilder, in denen sich Architekturen wie netzartig gespannte, „fliegende Bauten“ über die Oberfläche zu bewegen scheinen, weicht einer streng dualistischen Konzeption von Bildraum, in dem sich der Blick auf oben und unten, Vorder- und Hintergrund, Himmel und Erde festlegen will. Sucht nach Identifikation stellt sich geradezu zwingend ein. Überraschend, wie minimalistisch reduziert die Gesten der Malerei auch sein mögen, es stellt sich immer noch eine Vorerfahrung von schon gesehenen, erinnerten Landschaften ein, die nach Topologie, Bewuchs, Nutzung, Tages- und Jahreszeiten kategorisiert werden wollen und sich jeder Orientierung zugleich entziehen. Der originäre Charakter des Einzelblattes ist erkennbar und dennoch in dem alles verbindenden Duktus des gesamten Zyklus aufgehoben. Ebenso unmißverständlich wird die Annahme durchkreuzt, es könne sich um ursprüngliche, unberührte, ewige Naturlandschaften handeln, utopisches Potential der romantischen Malerei. „Solche Orte gibt es nicht, und weil es sie nicht gibt, wird der Raum zur Frage, hört auf, eine Gewißheit zu sein, hört auf, eingegliedert zu sein, hört auf, angeeignet zu sein. Der Raum ist ein Zweifel: ich muß ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen, er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muß ihn erobern. Meine Räume sind vergänglich: die Zeit wird sie abnutzen, wird sie zerstören: nichts wird mehr dem gleichen, was einmal war, meine Erinnerungen werden mich im Stich lassen, das Vergessen wird in mein Gedächnis einsickern. Der Raum schmilzt dahin, wie der Sand zwischen den Fingern zerrinnt“ (4). Die existentielle Grunderfahrung, die der französische Soziologe Georges Perec (1936-82) im ausgehenden 20. Jahrhundert beschreibt, daß letztlich alle Räume besetzte Räume sind und Landschaft nicht anders als als angeeignete, bearbeitete Kultur-Landschaft gedacht werden kann, findet sich unmittelbar auch in Ute Pleugers malerischer Auffassung des Themas. Industrielle Produktion, serielle Arbeitsabläufe, repetetive Teilarbeit, massenhaft vorkommende Existenz und Existenzvernichtung und schließlich die massenhafte und seit neuestem identische Reproduzierbarkeit von Natur und Lebensformen sind immanente Voraussetzungen dieser Bilder, die zeitgenössische Aussagen über den Stand der Zivilisation verinnerlichen und zu keiner anderen Zeit denkbar gewesen wären. Erweckt nicht Ute Pleugers Aufhebung die Assoziation an geklonte Bäume? Ist nicht die massenhafte Wiederholung von Form in der Natur, der Anbau sogenannter Monokulturen, tödlich für alle sich selbst regulierenden Systeme? Hier kehrt, auf abstrakterer Ebene, die am Vorgang der Bildentstehung vorab aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung von naturgesetzlich ablaufenden Prozessen durch menschliche Steuerung wieder.

Ute Pleugers Zyklus Die Aufhebung steht am Ende einer über vierhundertjährigen Tradition des Landschaftsbildes, einer Gattung, die Anfang des 16. Jahrhunderts in der europäischen Malerei beginnt und deren Dekonstruktion im 20. Jahrhundert sich schrittweise und unwiederbringlich bis heute vollzieht. Entsprach noch die Entdeckung der Landschaft als Motiv der Kunst im ausgehenden Mittelalter der ambivalenten Welterfahrung des Subjekts, das in seiner Einsamkeit wieder zurückkehren möchte zu seinem natürlichen Ursprung, von dem es durch seine irdische Existenz getrennt ist, so drückt die Landschaftserfahrung des neuzeitlichen Menschen mit Schiller die sentimentalische Sehnsucht nach „Elysium“ aus, im Bewußtsein, daß die Rückkehr nach Arkadien für immer verwehrt bleibt. Und heute? Eine Chance aktueller Landschaftsmalerei könnte darin liegen, daß sie „moderne Kunsterfahrung (ermöglicht), die in der Stille der Anschauung aufgeht“ (5).

Ute Pleugers Landschaften sind weder Topos- noch Stimmungslandschaften, wie sie die Stufen ihrer ästhetischen Aneignung in der Kunstgeschichte markieren, und sie stellen keine Bühne dar, auf der sich ein äußeres oder inneres Geschehen vollzieht. Sie enthalten keine Erzählung. Sie sind menschenleer, ohne Orientierung, perspektiv- und ausweglos. Von Horizonten fest verschlossen, geben die Bildräume keine Tiefen her, es ist, als seien sie in die Fläche geklappt. Fernes ist nah und Nahes fern. Im Nichts spiegelt sich die Aura der Erhabenheit. Linien suggerieren Unendlichkeit und entlarven die Illusion erlernter Wahrnehmung. Unbekanntes Terrain. Es gibt keinen Zugang und keinen Ausgang, nur das Hier und Jetzt des Bildes, das immer schon das nächste in sich birgt. Dabei liegt dennoch kein filmisches Sehen im Sinne von Sequenzen vor. Unzählige Schichten scheinen sich hinter der Bild(schirm)oberfläche zu verbergen. Ein windows-Prinzip leitet den Blick von Motiv zu Motiv, Blatt zu Blatt, und hier scheint das Fenster-Motiv als feste Raumbegrenzung und Übergang von innen und außen der früheren Architekturdarstellungen Ute Pleugers noch einmal immanent auf. In der fast unmerklichen Variation dieses alten, der Romantik entliehenen Motivs stellen sich Assoziationen zu Robert Motherwells Open-Bildern ein, weiten, leeren, horizontalen Landschaften, die den Blick durch das Fenster leiten und auffordern zum Gang in eine andere, freiere (?) Welt. Die Aufhebung kommt jetzt ohne diesen Rahmen aus. Damit werden unsere traditionellen Raumerfahrungen, gewonnen aus der zeitlichen und räumlichen Verortung des sich bewußten Subjekts, gründlich aus den Angeln gehoben. Über den Wegfall von Begrenzung und Perspektive im Bildraum erfahren wir die Eingeschränktheit unseres eigenen Blicks und die Relativität unserer in Perspektive gebündelten Wahrnehmung: „Unser Sehfeld enthüllt uns einen begrenzten Raum: …unser Blick überfliegt den Raum und gibt uns die Illusion des Reliefs und der Distanz. So setzen wir den Raum zusammen: mit einem Oben und einem Unten, einer Linken und einer Rechten, einem Vorn und einem Hinten, einem Nah und einem Fern. Wenn nichts unseren Blick aufhält, trägt unser Blick sehr weit. Doch wenn er auf nichts stößt, sieht er nichts; er sieht nur das, worauf er stößt: der Raum, das ist das, was den Blick aufhält, das, worauf die Augen treffen…, der Raum, das ist, wenn es einen Winkel bildet, wenn es aufhört, wenn man sich umdrehen muß, damit es wieder weitergeht“ (6).

In der Kargheit der Motive eröffnet Die Aufhebung kontemplative Gedankenräume, die zu durchmessen dem Betrachter ein hohes Maß an Konzentration und Bereitschaft zur Auseinandersetzung abfordern, denn sie bergen in großer Dichte essentielle Fragen nach Wahrnehmung, Bild, Raum, Realität und Virtualität in der heutigen Kunst und deren Aufhebung zugleich.
„Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee“, heißt es bei Kafka, „Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar“ (7).
Was wir sehen, ist nicht das, wofür wir es halten, Wahrnehmung täuscht sich an den Erscheinungsformen der Realität. Wie Kafka spielt Ute Pleuger mit dem illusionistischen Charakter der Kunst, indem sie sowohl den Glauben an ihren mimetischen Darstellungsauftrag als auch das Prinzip der l’art pour l’art ad absurdum führt. Mit dem Zyklus Die Aufhebung gelingt ihr die erstaunliche Gratwanderung, Kunst als reine Materie und reine Illusion zugleich vorzuführen. So gesehen, stellen die Blätter „Natur“ dar – in dem Sinne, daß sie die Art und Weise zeigen, „wie die Welt zeitgenössisch angeschaut wird“ (Beat Wyss)(8).

aus: Ute Pleuger – Die Aufhebung, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 1997, ISBN 3-927877-29-8

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ohne Titel · 70 × 100 cm · Acryl auf Packpapier · 1996

 

(1) Beat Wyss, Die Kunst auf der Suche nach ihrem Text, in: ders., Mythologie der Aufklärung. Geheimlehren der Moderne / Jahresring 40, München 1983, S. 9
(2) Sofern nicht anders angegeben, basieren die Zitate auf einem Gespräch mit Ute Pleuger am 29.8.97
(3) Vgl. dazu den Ausstellungskatalog „Ute Pleuger, Serielle Räume“, hrsg. vom Werkbund-Archiv / Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts, Berlin 1996
(4) Georges Perec, Träume von Räumen, Frankfurt/M., 1994, S. 100
(5) Beat Wyss, Vom Schauplatz zur Landschaft. Aussicht auf eine Kunst ohne Text, in: Landschaft – Mit dem Blick der 90er Jahre, hrsg. von Kathrin Becker und Klara Wallner, Berlin 1996
(6) Georges Perec, a.a.O., S. 114 f.
(7) Franz Kafka, Die Bäume (1903/4), in: ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/M., 1970
(8) Beat Wyss, Mythologie der Aufklärung, a.a.O., S. 9