Claudia Tittel: Plein-Jeu

Der Gestaltpsychologe Max Wertheimer ging davon aus, daß es universelle Gesetze der Organisation von Wahrnehmung gebe und daß diese Gesetze angeboren seien. Ute Pleugers Interesse an Malerei und Zeichnung resultiert aus dieser Idee einer strukturierten und zugleich natürlichen Organisation des Sehens und der Wahrnehmung, wobei der Ursprung ihrer Formensprache in der Musik zu finden ist. Denn parallel zu ihrer Ausbildung an der Hochschule der Künste in Berlin studierte sie Orgel. So ist es nicht verwunderlich, daß den Bildern Pleugers eine musikalische Struktur eigen ist, die sich auf Werke, zum Beispiel eines Johann Sebastian Bachs, Olivier Messiaens oder György Ligetis bezieht. Die Nähe zu polyphonen Ansätzen zeigt sich bei Pleuger bereits in ihrer Serie Serielle Räume, die zwischen 1984 und 2000 entstehen. Schon damals ist ein Hang zur „expansiven Form“ zu erkennen, aber auch die „wiederkehrend linear-parallelen Bildaufbauten (…) lassen an fugale Mehrstimmigkeit denken“ (x). Seit 2000 arbeitet Ute Pleuger dann an einem Zyklus, der sich explizit mit dem strukturellen Verhältnis von Musik und bildender Kunst beschäftigt: In Fugen transferiert sie die Charakteristika der musikalischen Form der Fuge in ein visuelles Konzept. Wie in einer Fuge zwei verschiedene Themen kontrapunktisch ineinandergreifen, sich treffen, überlappen, wieder trennen, so verhalten sich auch die visuellen Formen in ihren Bildern. Damals nutzte sie grafische Elemente, die sich auf der Bildfläche im Mit- und Gegeneinander wie Dux (die führende Stimme) und Comes (die begleitende Stimme) bewegen und dabei den Bildrahmen sprengen. Die Strukturen ließen sich auch über den Bildraum hinaus erweitern und ins Unendliche weiterführen. Die Linienführungen ergänzen sich gegenseitig zu einer Komposition, in der die eine Linie beziehungsweise Stimme die andere bedingt.

In Plein-Jeu schlägt Pleuger einen anderen Weg ein: Mit den Mitteln der Malerei versucht sie, die Klangerfahrung, das heißt die Klangfülle beim „vollen Spiel“, zum Beispiel von Orgelmusik, auf die Seherfahrung zu übertragen. Plein-Jeu, was nicht nur wörtlich „volles Spiel“ bedeutet, sondern auch die international gebräuchliche Registrieranweisung für das Tutti an der Orgel (in organo pleno) ist erhält in den Arbeiten Pleugers eine weitere Begriffsbestimmung. Während Musik sich entlang einer zeitlichen Achse bewegt, wird bei Pleuger dieses „volle Spiel“ der Farben und Formen als Ganzes, in seiner Fülle und gleichzeitigen Komplexität, direkt und unmittelbar visuell erfahrbar. Dabei lotet Pleuger das Verhältnis eines sukzessiven und gleichzeitig das Ganze wahrnehmenden Sehens aus, indem sie einen temporären Sehprozeß bei den BetrachterInnen initiiert und zugleich einen Resonanzraum entfaltet, in dem die widerstrebenden zentrifugalen und zentripetalen Kräfte, die die Bildfläche in alle Richtungen erweitern, gleichzeitig wirken. Die jeweils aus drei Farben zusammengesetzten Kreise füllen nicht nur die gesamte Leinwand, sondern scheinen regelrecht über das Bildfeld und darüber hinaus zu rollen. In Plein-Jeu vibrieren die exakt gesetzten Formen und Farben und bieten auch dem Auge keinen Halt. Jede Farbe ist dabei eine Stimme, die ihre „Klangfarbe“ durch die Nachbarschaft zu anderen Farben verändert. Erst in der Wechselwirkung zu den sie umgebenden benachbarten Farben kann sich ihre Wirkmacht entfalten. Die vielfältigen Nachbarschaften erzeugen gleichzeitig Kontraste und Harmonien, Dissonanzen und Konsonanzen.

 aus: Polyphone – Mehrstimmigkeit in Bild und Ton, Kunstsammlung Gera, Musée d’art et d’histoire Paul Éluard Saint-Denis, 2021, ISBN 978-3-96999-055-7 

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Plein-Jeu V, Kunstsammlung Gera, 2021

(x) Reiner Niehoff, Fassaden, Ausstellungkatalog Künstlerhaus Bethanien Berlin 1990